Ein Prachtbau im Stil des Historismus
In Zistersdorf hielt sich das Ausmaß der Zerstörung in Grenzen. Zur wohl einschneidendsten Zerstörung kam es jedoch noch kurz vor Kriegsende am 17./18. April 1945. Das „Neue Rathaus“, ein Prachtbau von k. k. Baurat Eugen Sehnal (weitere Werke: Rathaus Mistelbach, Gerichts- und Amtsgebäude Poysdorf, Kaiserin-Elisabeth-Spital in Wien uvm.) und dem Wiener Stadtbaumeister Julius Müller im Stil des Historismus mit Ausprägung der Neorenaissance, wurde in den letzten Kriegstagen schwer beschädigt. So schwer, dass man sich dafür entschied, das Gebäude abzutragen und an dessen Stelle einen Neubau zu errichten.
Wodurch genau das „Neue Rathaus“ zerstört wurde, dessen Grundsteinlegung am 19. Jänner 1906 und die Einweihung am 30. Juli 1907 stattfand, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen, es existieren mehrere Versionen. Eine Version besagt, dass eine Stalinorgel das Rathaus beschoss, bis es ausbrannte, während eine andere davon ausgeht, dass die deutsche Wehrmacht das Gebäude beim Abzug sprengte. Fest steht, dass mit der Zerstörung dieses Baus die Stadt ihr Wahrzeichen verlor – einen dreigeschoßigen Prachtbau, der mit allen Üppigkeiten des historistischen Stils ausgestattet war.
Der Historismus ist ein Baustil des 19. Jahrhunderts, der sich durch die bewusste Nachahmung und Kombination vergangener Architekturstile auszeichnet. Typisch sind Stilelemente aus Epochen wie Romanik, Gotik, Renaissance und Barock, die oft in einem einzigen Bauwerk vereint wurden. Ziel war es, historische Formen neu zu interpretieren und repräsentative, imposante Gebäude zu schaffen.
Das „Neue Rathaus“ in Zistersdorf war vor allem geprägt durch den imposanten Turm auf der Nordost-Seite – mit jeweils einer Turmuhr im Norden und einer im Osten. Auffällig war auch das hochgezogene Walmdach des Turmes. Die Fassade war unter anderem durch zwei hervorspringende Erker gegliedert, auf der Nordseite gab es auch einen Balkon. Frauenköpfe und Wappen zierten die Fenster im 2. Obergeschoß.
Im Erdgeschoß befanden sich links vom Eingang die aus Zimmer, Kabinett und Küche bestehende Portierswohnung. Vom geräumigen Vestibül aus war die Bezirksarmenkasse zugänglich. An der Seitenfront lagen die Räumlichkeiten für das Postamt, die Wohnung des Postmeisters, ein Raum für die Volksbibliothek und Ortspolizeiarreste. Im ersten Stockwerk befanden sich die Sparkassenräume, Amtsräume für die Gemeinde sowie ein kleiner Sitzungssaal. Das zweite Stockwerk beherbergte den großen Sitzungssaal nebst Garderoben, das städtische Museum, ein Geometerbüro und eine aus zwei Zimmern, Küche und Vorzimmer bestehende Wohnung. Der große Sitzungssaal war mit Deckenfresken vom Maler Völkel verziert, wuchtige Ratsherrenstühle umsäumten den schweren Beratungstisch.
Quelle: https://anno.onb.ac.at/
Die Ausgabe vom 21. Jänner 1910 der Wiener Bauindustrie-Zeitung war dem „Neuen Rathaus“ von Zistersdorf gewidmet. Abgebildet waren auch ein Foto des Sitzungssaals, Grundrisspläne und Schnitte.
Am 17./18. April 1945 wurde das „Neue Rathaus“ – wahrscheinlich durch einen Stalinorgel-Angriff – schwerst beschädigt und glich danach einer Ruine.
Ein neues „Neues Rathaus“ muss her!
Eine der ersten uns bekannten Amtsstuben unserer Stadt befand sich am Kirchenplatz Nr. 12 (heute Frisör Busch). Kurz nach dem großen Überfall der Kururzzen im Jahr 1706 erfolgte der Bau des „Alten Rathaues“, ein Gebäude im Stile der damaligen Zeit, nämlich dem Barock. 1906 folgte schließlich die Grundsteinlegung für das „Neue Rathaus“ gleich gegenüber dem „Alten Rathaus“.
Nach der Zerstörung des „Neuen Rathauses“ wurde gleich im Folgejahr mit dem Wiederaufbau bzw. Neubau des Nachfolgegebäudes begonnen. Die Wahl des Architekten fiel auf Ing. Anton Steflicek.
Nach größten Schwierigkeiten in der Beschaffung des nach dem Krieg fehlenden Materials, kam es in den folgenden Jahren auch noch zu einer Steigerung der Baukostensumme, die bei Beginn des Baus mit 800.000 Schilling angesetzt war und bis zum Ende auf 4.000.000 Schilling anstieg. Dessen Aufbringung schien unmöglich. Der Schutt des zerstörten Rathauses wurde veräußert, die noch brauchbaren Ziegel für den Neubau wiederverwendet. Der intakt gebliebene ostseitige Bereich des Erdgeschoßes mitsamt dem originalen Eingangsportal der Sparkasse wurde in den Neubau integriert. Leider wurde das schöne Portal später vereinfacht. Die Fensterachsen und der Erker im zweiten Obergeschoß der Hauptfassade sowie der Turmaufbau mit Uhr wurden an gleicher Stelle belassen, jedoch in modernere, kubische Formensprache übersetzt.
Aus den alten Plänen für den Bau des neuen Amtsgebäudes, das viele stilistische Parallelen zu Wiener Gemeindebauten der damaligen Zeit aufweist, geht hervor, dass der Bau ursprünglich viel größer geplant war, nämlich um ein ganzes Geschoß höher. Auch war das Kino, das in den Kellerräumlichkeiten verwirklicht wurde, ursprünglich nicht vorgesehen. Wahrscheinlich entschied man sich später für die Errichtung des Kinos, das in den ersten 13 Jahren von der Gemeinde betrieben wurde, in der Hoffnung, damit bedeutende Einnahmen lukrieren zu können.
Insgesamt wurde der Neubau nach Westen hin breiter als der Vorgängerbau. Das Nachbargrundstück, auf dem ein ebenfalls kriegsbeschädigtes Haus stand, wurde von der Sparkasse gekauft und in das Bauprojekt eingebracht.
Trotz anfänglicher Schwierigkeiten wurde das neue Amtsgebäude 1949 seiner Bestimmung übergeben. 1959, anlässlich des 100-jährigen Bestandsjubiläums der Sparkasse, erhielt das Rathaus seinen Festsaal – mit einem Deckenfresko von Prof. Hans Wulz sowie einem Wandbild von Leopold Pfeffer.
Foto vom Bau des neuen „Neuen Rathauses“ | Auf dem Foto ist erkennbar, dass der ostseitige Ergeschoß-Bereich des Vorgängergebäudes samt originalem Eingangsportal der Sparkasse in den Neubau integriert wurde.
Auf den Plänen ist ersichtlich, dass der Neubau ursprünglich um ein Geschoß höher geplant war. Das vierte Geschoß fiel den Sparmaßnahmen zum Opfer. Stattdessen entschloss man sich für die Integrierung eines Kinos in den Kellerräumlichkeiten.
Prof. Hans Wulz beim Anfertigen des Deckenfreskos im Festsaal
Quelle: www.hanswulz.com
Text: Karina Goldmann, Museumsverein Zistersdorf
Quellen:
Archiv Stadtmuseum
Bauamt Zistersdorf
Binder, Franz. 1966. Zistersdorfer Heimatbuch. Zistersdorf: Verlag Franz Binder.
Jordan, Franz. 2003. April 1945 – Die Kämpfe im nordöstlichen Niederösterreich. Wals: Österreichischer Milizverlag.
Rossiwall, Theo. 1969. Die letzten Tage. Wien: Verlag Kremayr & Scheriau.
Achleitner, Friedrich. 2024. Architektur in Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Basel: Birkhäuser Verlag.
Dr. Dr. Wulz, Hans Georg: Hans Wulz. www.hanswulz.com [14.3.2025]