Kronen-Zeitungsartikel vom 31. Dezember 1935:
Der Klopfgeist von Zistersdorf
Spukt es wirklich in Zistersdorf? Alle Bewohner der kleinen Stadt, die durch die Erdölvorkommen in der Umgebung berühmt wurde, haben sich in den letzten Wochen mit dieser Frage befaßt. Die zwölfjährige Luise Schärf, das Töchterchen einer armen Witwe, ist plötzlich Mittelpunkt des allgemeinen Interesses geworden. Man vermutet dies, vermutet jenes, die richtige Lösung des Rätsels aber hat noch niemand gefunden. Bei der Beurteilung der rätselhaften Vorgänge ist vor allem in Betracht zu ziehen, daß die „Loisi“ als ein über ihre Jahre entwickeltes Mädchen bezeichnet wird, sich also in einem kritischen Stadium zu befinden scheint. Über kurz oder lang wird die Frage, welcher Art die Verbindung des Kindes zu dem „Klopfgeist“ ist, doch ihre Lösung finden. Vorläufig aber tappt man im Dunkel, vorläufig „spukt“ es in Zistersdorf.
Das unheimliche Haus an der Stadtmauer.
Frau Katharina Schärf, eine arme Witwe, die sich als Wäscherin fortbringt, wohnt mit ihrem Kind in einem kleinen an der uralten Stadtmauer gelegenen Häuschen. Links grenzt daran das alte Armenhaus, das gesperrt ist, rechts befindet sich das Wohnhaus eines Landwirts, der über den Verdacht, mit den Klopferscheinungen in Zusammenhang zu sein, erhaben ist.
Die zwölfjährige Luise Schärf wird als ein auffallend schönes und gut entwickeltes Kind bezeichnet, das in der Schule brav lernt. Die „Loisi“ ist blond, blauäugig und von einer geradezu akrobatischen Gelenkigkeit. Man rühmt ihr nach, daß sie ein sehr folgsames Kind ist.
Vor Wochen schon stellte Frau Schärf fest, daß sich irgend etwas Unheimliches inihrem Haus begebe. Sie vernahm Klopfgeräusche, eine Beobachtung, die das Töchterl bestätigte. Zuerst meinte sie, daß der Nachbar klopfe. Als sich dies als Irrtum ergeben hatte, beobachtete sie noch genauer als vorher. Und nun mußte sie konstatieren, daß „es“ auch dann klopfte, wenn der Hund im Hof bellte. Frau Schärf entschloß sich nun, ihre Wahrnehmungen im Bekanntenkreis zu erzählen und binnen kurzem hatte sich die seltsame Neuigkeit in der ganzen Stadt und auch in der Umgebung herumgesprochen.
Massenbesuch beim Klopfgeist.
Zu Hunderten kamen nun die Bewohner von Zistersdorf, um sich von der Richtigkeit der Wahrnehmungen Frau Schärfs zu überzeugen. Sie sammelten sich im Haus, promenierten aber auch in dem Gässchen auf und ab und manche kamen gar über die Stadtmauer gekrochen, um auf diese Weise zu versuchen, das „Gespenst“ zu sehen oder zu hören. Man stellte allerhand Mutmaßungen an. Die einen sprachen von „Mauerottern“, andere wieder gaben der Mutmaßung Ausdruck, daß in dem Bett der „Loisi“, von dem aus allabendlich die Klopfgeräusche vernehmbar wurden, Drähte versteckt seien. Die Ansammlungen wurden bis zur Weihnachtswoche immer größer, dann aber verlautbarte Frau Schärf eine „Besuchersperre“, weil ihr die vielen Gäste das Sauberhalten des Fußbodens immer schwieriger machten.
Auch die Gendarmerie mußte sich mit den Vorgängen befaßen, der Postenkommandant gab einen Bericht an die Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf.
Eine nähere Untersuchung der Vorgänge ist von behördlicher Seite bisher nicht erfolgt, sie wird aber voraussichtlich doch noch vorgenommen werden, da man über den „Klopfgeist“, der so viel Unruhe in die Stadt gebracht hat, Klarheit gewinnen will. Ein gebürtiger Zistersdorfer, der in Wien wohnhafte Techniker Heinrich Kuhn, befand sich während der Weihnachtsfeiertage in seiner Heimatstadt. Mit Einwilligung Frau Schärfs hat er an drei Abenden Beobachtungen durchgeführt. Seine Eindrücke und Wahrnehmungen schildert Heinrich Kuhn in einem Aufsatz, den er uns zur Verfügung stellte. Heinrich Kuhn schrieb folgendes:
Der Klopfgeist kann zählen.
„Während meines Aufenthaltes im Haus der Frau Schärf empfing ich den Eindruck, daß Mutter und Kind den sonderbaren Erscheinungen mit einem stets wachsenden Angstgefühl gegenüberstehen. Am ersten Abend wurde ich von einem 18-jährigen Mädchen in das Haus geführt. Bei Frau Schärf und ihrem Kind fiel mir eine gewisse Niedergeschlagenheit auf. Dem Bericht über die Wahrnehmungen im Haus muß ich vorausschicken, daß die Klopfgeräusche nur dann vernehmbar werden, wenn sich Luise in ein Holzbett legt. Frau Schärf ist aber außerstande, ein Eisenbett anzuschaffen. Sobald das Kind eingeschlafen ist, hören die Klopfgeräusche auf. Das Klopfen wandert von einem Raum in den anderen und ist z. B. auch dann zu hören, wenn sich die Zwölfjährige von dem im Zimmer stehenden Holzbett erhebt und sich in zweites, in der Küche befindliches Holzbett legt. Bei den Experimenten – die ich mehrmals auch im Beisein anderer Kontrollpersonen durchführte – geschah folgendes: Das Kind streckte sich, ohne die Kleider abzulegen, auf das Bett. Das einzige Fenster des Raumes war verhängt, auf dem Tisch befand sich eine Petroleumlampe, im Hausflur standen Frau Schärf und meine Begleiterin. Schon nach wenigen Minuten werden eigenartige Klopfgeräusche vernehmbar die vom Bett oder aus der Mauer zu kommen scheinen, bald laut, bald leise, rasch, langsam, unregelmäßig. Das durchaus naiv scheinende Kind sieht mich mit neugierigen Augen an. Es hat zu klopfen aufgehört, sobald ich das Holzbett angreife. Ich lasse los und sage dem Kind: „Lass klopfen. Lass laut klopfen!“ Bald lautes, bald langsames Klopfen ist zu hören. „Lasst rascher klopfen!“ Es klopft rascher. „Klopfe bis 10!“ Es klopft bis 10. Das Kind hat laut mitgezählt. Dasselbe Experiment ohne lautes Zählen. Das Experiment gelingt. Ich schwinge den Arm einige Male. Es klopft ebenso oft und im selben Rhythmus. Ich bewege den Arm sehr rasch: Die Klopftöne trommeln im gleichen Takt. Ich wähle willkürlich den Dreivierteltakt. Das Echo kommt im Dreivierteltakt. Wenn ich den Arm gegen das Kopfende des Bettes bewege folgt sofort die Antwort. Wenn ich den Arm gegen die Zimmerdecke bewege, bleibt das Klopfen aus. Zweiter Versuchsabend: Das Klopfen ist viel schwächer als am Vortag und bleibt zeitweilig ganz aus. Hier muss ich einfügen, daß gewisse Personen überhaupt nicht ins Zimmer dürfen, da sie anscheinend irgendwie „stören“. Andere wieder, vor allem ein Angehöriger der Gendarmerieschule, sind imstande, besonders starkes Klopfen zu erzwingen. Frau Schärf wundert sich, daß es nicht klopfen will, doch so oft sie darüber im Zimmer zu sprechen beginnt, werden die Klopfgeräusche vernehmbar. Die Frau geht zum Bett, richtet die Decke und es klopft. Daraufhin ersuche ich sie, sich zum Kind ins Bett zu legen. Resultat: Es beginnt laut zu klopfen… Die Frau hat augenscheinlich eine verstärkende Wirkung. Ich wiederhole später, während das Kind allein im Bett liegt, das Experiment mit den Armschwingungen. Es gelingt wie am Vortag. Das Kind muß sich umdrehen, die Decke über den Kopf ziehen. – Es klopft im selben Rhythmus wie ich es wünsche. Ich gehe nun aus dem Zimmer und führe die Armbewegungen hinter der fast geschlossenen Türe aus. Das Experiment gelingt. Und es gelingt auch, als es andere versuchen. Die größte Überraschung für alle Anwesenden bedeutete aber folgendes Experiment, wobei zu bedenken ist, daß es sich durchwegs um Kontrollpersonen handelt, die den ganzen Versuchen kritisch, sogar argwöhnisch gegenüberstanden. Wir stehen alle hinter der Tür und ich flüstere jedem ins Ohr: „Denken Sie an die Ziffer 27!“ Jetzt wurde die Ziffer geklopft, an die wir gedacht hatten, ohne sie dem Kind mitzuteilen. Es klopft 27 Mal. Und schon ruft das Kind aus dem Zimmer: „Siebenundzwanzig!“ Luise hatte, ohne an eine Ziffer zu denken, mit den Klopftönen mitgezählt. Ich deute allen mit den Fingern „Sieben!“ Nach Aufforderung klopft es aus dem Zimmer siebenmal. Auch das dritte derartige Experiment gelingt. Das vierte nicht mehr. Das Kind antwortet auf meine Frage, warum es statt zehnmal zwölfmal geklopft habe: „Ich habe mir diesmal selbst eine Ziffer, und zwar zwölf, gedacht und da hat es dann 12 geklopft!“